TAG 2

Aufwachen um 5.35. Augen vom Heulen geschwollen wie beim Down-Syndrom. Eine Morgendepression springt mich an. Aber vielleicht ist es auch die Depression von gestern und sie ist mit mir aufgewacht. 6.15 Blut- und Urinabgabe. Messen, Blutdruck, wiegen – wo kommen die 5 Kilo her, von denen ich nicht wusste, dass ich sie zugenommen habe? Rauchen, dann Frühstück. Aus Versehen setze ich mich in den Bereich von Team 5. Ich hoffe, dass es mir die Team 2-Kollegen nicht übel nehmen. Aber na ja – ich hab mich gestern ziemlich isoliert, bin sogar zum Rauchen nicht zu ihnen gegangen, sondern blieb Ipod-beschallt allein. Vielleicht legen sie das jetzt gegen mich aus. Bei Frühstück in Team 5 komme ich mit einem Berliner ins Gespräch, der nicht Kanufahren darf. Kanu nur für Angstpatienten. Das erste Mal in Wochen kann ich meiner Angst etwas abgewinnen.
Um 8.15 Frühtreff – auch „der Appell“ genannt. Hier bekommen wir Patienten unsere Termine. Frau F. hat um 9.15 Depri in der Aula, aber das überschneidet sich mit dem Seminar „Stress und Stressbekämpfung“ im Gartengeschoss, das im Grunde ein Keller ist. Ich erfahre, dass ich um 9.15 Uhr meine Psychologin treffe.
Die Patienten, mit denen ich ins Gespräch komme und die mir sympathisch sind reisen alle schon nächste Woche ab. Dass ich sie sympathisch finde hat aber vielleicht damit zu tun, dass sie die Therapie schon fast hinter sich haben.

Ich bin gespannt auf´s Drogenscreening und die Leberwerte. Wenn es da Auffälligkeiten gibt, dann muss ich eine Abstinenzerklärung unterschreiben und würde mich ärgern, meine ersten beiden Tage (die, schenkt man den anderen Glauben, die schlimmsten sein sollen) nichts getrunken zu haben.

Das erste Gespräch mit meiner Therapeutin verläuft den Umständen
entsprechend angenehm. Ich kann die Träne zurückhalten, aber sie quillt ganz schön vorm Auge.

Nach dem Gespräch mit dem Chefarzt („Sie sind dumm!“ „Warum? „Weil Sie erst jetzt kommen.“) mache ich mich auf den Weg in die Stadt. Spaziere durch die Altstadt von W. und trinke einen Eistee, weil ich nirgends Cola Light Lemon finden kann. Auf dem Rückweg am Hafen entlang hole ich den Ipod raus und setze mich auf eine Bank mit Blick auf Wasser und Boote. An einer mietbaren Yacht links von mir steht ein Typ mit schwarzem Lockenkopf und Sonnenbrille und sieht angenehm entspannt aus. Er stört nicht im Bild. Ist nicht zu attraktiv, nicht zu aggressiv wirkend. Eyecandy ohne Kalorien. Nach einer viertel Stunde („Razzle Dazzle them“, Richard Gere, „Trouble in mind“ Marianne Faithfull) setzt er sich neben mich. Ich überlege, ob mich das befangen macht. Du Tarzan, Ich Patient. Wieder ein paar Minuten später kommt ein weiterer attraktiver junger Mann vorbei und die beiden geben sich einen flüchtigen und liebevollen Kuss. Lockenkopf geht, junger Mann bleibt neben mir sitzen und liest Zeitung.
Ich verschwinde. Soviel schwule Normalität halte ich gerade nicht aus. Warum sieht meine Leben nicht so aus? Warum sitze ich auf dem Berg bei den Psychos und er auf der Bank vor der Yacht? Life sucks.
Beim Abendbrot lerne ich L. kennen. Sie zeigt mir den kürzesten Weg von der Klinik zum Wasser und wir setzen uns auf den Bootssteg.
„Wenn ich nicht mehr kann – dann komm ich immer hierher. Manchmal geht´s einfach nicht, da kannst Du Dir das Elend der anderen nicht auch noch antun. Wenn ich den Blick auf dem Wasser habe, geht´s mir wieder gut.“
„Weshalb bist Du hier?"
"Das gleiche wie Du – Sozialphobie.“

Soviel Zeit wie möglich draußen verbringen ist eine gute Strategie. Laubbäume, hoppelnde Hasen, Eichhörnchen, Bambi und seine „Mutti“ (so bezeichnet selbst meine Therapeutin eine Frau mit Kindern), schwarze Katzen, Elstern, Mücken, kleine Käfer, Schnecken, nackt und angezogen. Wasser, Wasser, Wasser. Der Himmel liefert heute spektakuläre Wolkendeko. Ich rauche und schaue und höre Musik und denke gerade, wie schön, dass ein Kopfhörer ein so allgemein verständliches Signal liefert, als ein Herr sich neben mich setzt und mich in ein Gespräch verwickelt, in das ich mich nicht verwickeln lassen möchte, aber dessen Fäden ich aus Schicklichkeitsgründen nicht zu kappen verstehe. Als es endlich vorbei ist klingelt das Handy an, es ist Jürgen und ich bin froh, seine Stimme zu hören, und nicht, wie gestern noch, um Fassung ringen zu müssen.
Ich erkläre: „Es ist wie beim „Frauentausch“ auf RTL2. Da heult jede Tauschmutti, wenn sie ihre Familie verlässt, so dass man sich fragt, warum macht die blöde Kuh es dann? Aber man weiß erst wie es ist, wenn man selbst die blöde Kuh ist. Außer, dass ich keine Tauschmutti bin. Weil, es ist ja keine Mutti in meine Wohnung eingezogen. Nur die beiden Spanier. Und ich krieg auch kein Honorar.“
Als ich zum Schlafengehen das Licht ausmache, sehe ich aus dem Fenster ein Feuerwerk und die Klänge des Grauens („Über sieben Brücken musst du geh´n“) wabern herüber. In W. ist Volksfest. In der Klinik erstmal Schicht.

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Sozialphobie ist die dritthäufigste psychische Störung nach Depression und Alkoholismus. Unser Protagonist leidet seit vielen Jahren an dieser Erkrankung. Nachdem ihn die Phobie beruflich und in viererlei Hinsicht auch privat ins Aus katapultiert hat, beschließt er, sich in Behandlung zu begeben. Und weil er es sich nicht leicht machen will und an radikale Methoden glaubt, begibt er sich für eine sechswöchige REHA-Maßnahme in eine Fachklinik für psychosomatische Erkrankungen. An eines hat er jedoch nicht gedacht: dass die Kliniksituation an sich, die ständige Konfrontation mit Patienten und Pflegepersonal, zunächst einmal Futter für seine Ängste sein wird. Anstatt sich in der Klinik aufgehoben zu fühlen, schlägt er dort zunächst ziemlich hart auf.

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Zuletzt aktualisiert: 18. Jul, 21:25

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