i am the concierge

Donnerstag, 20. Oktober 2005

TAG 2

Aufwachen um 5.35. Augen vom Heulen geschwollen wie beim Down-Syndrom. Eine Morgendepression springt mich an. Aber vielleicht ist es auch die Depression von gestern und sie ist mit mir aufgewacht. 6.15 Blut- und Urinabgabe. Messen, Blutdruck, wiegen – wo kommen die 5 Kilo her, von denen ich nicht wusste, dass ich sie zugenommen habe? Rauchen, dann Frühstück. Aus Versehen setze ich mich in den Bereich von Team 5. Ich hoffe, dass es mir die Team 2-Kollegen nicht übel nehmen. Aber na ja – ich hab mich gestern ziemlich isoliert, bin sogar zum Rauchen nicht zu ihnen gegangen, sondern blieb Ipod-beschallt allein. Vielleicht legen sie das jetzt gegen mich aus. Bei Frühstück in Team 5 komme ich mit einem Berliner ins Gespräch, der nicht Kanufahren darf. Kanu nur für Angstpatienten. Das erste Mal in Wochen kann ich meiner Angst etwas abgewinnen.
Um 8.15 Frühtreff – auch „der Appell“ genannt. Hier bekommen wir Patienten unsere Termine. Frau F. hat um 9.15 Depri in der Aula, aber das überschneidet sich mit dem Seminar „Stress und Stressbekämpfung“ im Gartengeschoss, das im Grunde ein Keller ist. Ich erfahre, dass ich um 9.15 Uhr meine Psychologin treffe.
Die Patienten, mit denen ich ins Gespräch komme und die mir sympathisch sind reisen alle schon nächste Woche ab. Dass ich sie sympathisch finde hat aber vielleicht damit zu tun, dass sie die Therapie schon fast hinter sich haben.

Ich bin gespannt auf´s Drogenscreening und die Leberwerte. Wenn es da Auffälligkeiten gibt, dann muss ich eine Abstinenzerklärung unterschreiben und würde mich ärgern, meine ersten beiden Tage (die, schenkt man den anderen Glauben, die schlimmsten sein sollen) nichts getrunken zu haben.

Das erste Gespräch mit meiner Therapeutin verläuft den Umständen
entsprechend angenehm. Ich kann die Träne zurückhalten, aber sie quillt ganz schön vorm Auge.

Nach dem Gespräch mit dem Chefarzt („Sie sind dumm!“ „Warum? „Weil Sie erst jetzt kommen.“) mache ich mich auf den Weg in die Stadt. Spaziere durch die Altstadt von W. und trinke einen Eistee, weil ich nirgends Cola Light Lemon finden kann. Auf dem Rückweg am Hafen entlang hole ich den Ipod raus und setze mich auf eine Bank mit Blick auf Wasser und Boote. An einer mietbaren Yacht links von mir steht ein Typ mit schwarzem Lockenkopf und Sonnenbrille und sieht angenehm entspannt aus. Er stört nicht im Bild. Ist nicht zu attraktiv, nicht zu aggressiv wirkend. Eyecandy ohne Kalorien. Nach einer viertel Stunde („Razzle Dazzle them“, Richard Gere, „Trouble in mind“ Marianne Faithfull) setzt er sich neben mich. Ich überlege, ob mich das befangen macht. Du Tarzan, Ich Patient. Wieder ein paar Minuten später kommt ein weiterer attraktiver junger Mann vorbei und die beiden geben sich einen flüchtigen und liebevollen Kuss. Lockenkopf geht, junger Mann bleibt neben mir sitzen und liest Zeitung.
Ich verschwinde. Soviel schwule Normalität halte ich gerade nicht aus. Warum sieht meine Leben nicht so aus? Warum sitze ich auf dem Berg bei den Psychos und er auf der Bank vor der Yacht? Life sucks.
Beim Abendbrot lerne ich L. kennen. Sie zeigt mir den kürzesten Weg von der Klinik zum Wasser und wir setzen uns auf den Bootssteg.
„Wenn ich nicht mehr kann – dann komm ich immer hierher. Manchmal geht´s einfach nicht, da kannst Du Dir das Elend der anderen nicht auch noch antun. Wenn ich den Blick auf dem Wasser habe, geht´s mir wieder gut.“
„Weshalb bist Du hier?"
"Das gleiche wie Du – Sozialphobie.“

Soviel Zeit wie möglich draußen verbringen ist eine gute Strategie. Laubbäume, hoppelnde Hasen, Eichhörnchen, Bambi und seine „Mutti“ (so bezeichnet selbst meine Therapeutin eine Frau mit Kindern), schwarze Katzen, Elstern, Mücken, kleine Käfer, Schnecken, nackt und angezogen. Wasser, Wasser, Wasser. Der Himmel liefert heute spektakuläre Wolkendeko. Ich rauche und schaue und höre Musik und denke gerade, wie schön, dass ein Kopfhörer ein so allgemein verständliches Signal liefert, als ein Herr sich neben mich setzt und mich in ein Gespräch verwickelt, in das ich mich nicht verwickeln lassen möchte, aber dessen Fäden ich aus Schicklichkeitsgründen nicht zu kappen verstehe. Als es endlich vorbei ist klingelt das Handy an, es ist Jürgen und ich bin froh, seine Stimme zu hören, und nicht, wie gestern noch, um Fassung ringen zu müssen.
Ich erkläre: „Es ist wie beim „Frauentausch“ auf RTL2. Da heult jede Tauschmutti, wenn sie ihre Familie verlässt, so dass man sich fragt, warum macht die blöde Kuh es dann? Aber man weiß erst wie es ist, wenn man selbst die blöde Kuh ist. Außer, dass ich keine Tauschmutti bin. Weil, es ist ja keine Mutti in meine Wohnung eingezogen. Nur die beiden Spanier. Und ich krieg auch kein Honorar.“
Als ich zum Schlafengehen das Licht ausmache, sehe ich aus dem Fenster ein Feuerwerk und die Klänge des Grauens („Über sieben Brücken musst du geh´n“) wabern herüber. In W. ist Volksfest. In der Klinik erstmal Schicht.

Mittwoch, 19. Oktober 2005

TAG 1

„Lass Dich nicht zu sehr verbiegen! Nur da, wo´s krumm ist.“ Feste, lange Umarmung, Tränen in den Augen alle beide.
Und so setze ich mich ins Auto und fahre nach W. Ein halbes Jahr habe ich hierauf gewartet, Ärzte, BfA und Krankenkasse davon überzeugt, dass ich professionelle Hilfe brauche und jetzt ist es soweit und es schnürt mir das Herz zusammen. Ich war noch nie irgendwo sechs Wochen lang außer in meinen Zuhausen. Angst, vor allem Angst macht sich breit und Heimweh, bevor ich überhaupt weg bin. Nach meinen Lieben, die sich in den vergangenen Monaten so für mich eingesetzt haben. Jürgen, Frank und vor allem Kai. Im Auto eine von ihm gebrannte CD, die mir alle paar Kilometer lang die Tränen in die Augen treibt.
Nach einer dreieinhalbstündigen Fahrt (für 170 km) bin ich da. Die nette Rezeptionistin begrüßt mich. Meine Co-Therapeutin stellt sich mir vor und zeigt mir mein Zimmer und (ganz wichtig) den Raucherbereich. Erstmal rauchen und dann „Queer eye for the patient´s quarters“. Ich stelle meine Bücher auf, platziere das Doris Day-Autogramm mit persönlicher Widmung („To V., with love and thanks for caring.“), versprühe „Diyptyque Gardenia“ und lege meine Kaninchenfelldecke übers schmale Jugendzimmerbett. Ich schließe den Mac an und das Geräusch beim Booten feels like home. But not enough.
Ich bin in der Klinik, ich bin auf dem eventuellen Weg der Besserung, doch quasi homöopathisch, gehe ich die Angst mit der Angst an. Der Angst, dass mein Pate (so heißen die Buddies hier) mich nicht mag, oder ich ihn nicht. Angst vorm Speisesaal, vor der Ärztin, der Therapeutin. Vor dem Plan, der mir bevorsteht, vor den Aufgaben, die mir gestellt werden. Aber ich habe mir diesen Weg selbst ausgesucht. So. und gleich klopft es und ich stehe jemandem gegenüber, der vor ein paar Wochen vermutlich in derselben Situation war. Denn jetzt ist Mittagessen mit dem Paten!

Der Pate heißt S, Typ hart arbeitender Familienvater, und kommt aus Gämmnids. Er zeigt mir die Klinik und erklärt die Abläufe. Nach dem Essen habe ich Termin mit meiner Co-Theraputin und meiner medizinischen Betreuerin. Erste arg unangenehme Gefühle betreffs meines bisherigen Lebenswandels. Auf die befürchtete Drogenfrage antworte ich wahrheitsgemäß (und frage mich, ob ich vielleicht auch wegen meines sporadischen und mittlerweile ein halbes Jahr zurückliegenden Koks- und E-Missbrauchs hier bin.) Nach den Gesprächen ist Zeit, mit den anderen Rauchern zu bonden und ein paar Fragebögen (wahrheitsgemäß) auszufüllen, dann umziehen und zum Newcomer-Sport. Albträume werden wach als ich die Sporthalle betrete. Die Bundesjugendspiele und ich – eine Hassliebe ohne jegliche Erotik. Obwohl es erst in fünf Minuten losgeht, sitzen schon ca 15 Leute auf Turnbänken und schauen mich erwartungsvoll an. Ich fühle mich ganz entschieden beschissen. Was habe ich bloß getan, dass ich glaubte, dies wird wie „Sommersturm“? Ich weiß nicht, wie oft ich heute tief durchatmen musste, ebenso wenig wie häufig das nichts genutzt hat. Ich kann mich selbst nicht leiden, dafür dass ich so wehleidig bin, aber ich habe solches Heimweh nach meinen Lieben, da hilft auch kein Gardenienspray oder Kaninchenfell. Ich heule nachher, wenn ich allein auf dem Zimmer bin. Und vorher noch mal kurz im Garten, aber es hat, glaub ich, niemand gesehen. Und ich spüre, es wird nicht das letzte Mal in diesen 6 Wochen sein.
Der Sport ist soft, es geht mehr ums Kennenlernen. Ballwerfen mit Namensnennung. Es funktioniert tatsächlich! Ich habe mir zwei Namen gemerkt: Frau M. und Frau W. Und dann, beim Reifenzwirbeln werde ich der erste Zwirbelmeister des Tages – mein Reifen schlägt als letzter auf.
In manchen Momenten spüre ich die Solidarität unter uns Newcomern. Überhaupt grüßen wir uns alle auf den Gängen, sitzen am Gruppentisch und erzählen uns wo wir herkommen, wie die Anreise war. Aber weshalb wir hier sind – darüber wird noch nicht geredet. Einen attraktiven Mann habe ich auch schon gesehen. Trendige Kurzhaarfrisur, sehr netter Eindruck. Aber ich bin nicht hier wegen der attraktiven Patienten. Und trotzdem – gut zu wissen.

Überall Menschen, noch nie hätte ich meine eigene Wohnung so sehr gebraucht wie jetzt. Die Menschen sind durchweg freundlich, aber wie sollen sie mir meine Freunde ersetzen, oder meine Familie. Ich heule auch, als ich mit meiner Mutter telefoniere. Sie auch. Und wieder schäme ich mich so, sie damit rein zu ziehen.
Wie konnte ich je glauben, mir das zumuten zu müssen? Wie soll ich das durchstehen? Ich will mit niemandem bonden. Ich will keinen „Paten“. Vielleicht sollte ich einfach akzeptieren, dass mein Leben nun mal beschissen ist, zur Zeit. Vielleicht wird alles von selbst besser? Vielleicht brauchte ich nur eine Illustration dafür, dass ich am Ende bin. Die habe ich jetzt. Darf ich bitter wieder nach Hause??

Mit Ipod in den Garten. Der Shuffle hat folgendes für mich:

Running up that hill
Polaroid Cocain
Theme from Valley of the Dolls
Grauer Regen

Und das schöne Lied von Ich + Ich in dem es geht: „Es tut mir weh, Dich so zu sehn, Du stehst am äußersten Rand...“

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42 DAYS

Sozialphobie ist die dritthäufigste psychische Störung nach Depression und Alkoholismus. Unser Protagonist leidet seit vielen Jahren an dieser Erkrankung. Nachdem ihn die Phobie beruflich und in viererlei Hinsicht auch privat ins Aus katapultiert hat, beschließt er, sich in Behandlung zu begeben. Und weil er es sich nicht leicht machen will und an radikale Methoden glaubt, begibt er sich für eine sechswöchige REHA-Maßnahme in eine Fachklinik für psychosomatische Erkrankungen. An eines hat er jedoch nicht gedacht: dass die Kliniksituation an sich, die ständige Konfrontation mit Patienten und Pflegepersonal, zunächst einmal Futter für seine Ängste sein wird. Anstatt sich in der Klinik aufgehoben zu fühlen, schlägt er dort zunächst ziemlich hart auf.

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