Dienstag, 18. Oktober 2005

WAS ZUVOR GESCHAH

DON´T SMOKE IN BED

Im Katalog eines schwedischen Möbelherstellers las ich mal eine rotgedruckte Warnung: das Weihnachts-Deko-Schaf „Svenö“ (oder so) wurde zurückbeordert, weil es nicht so schwer entflammbar war, wie man sich das für einen Christbaumschmuck gewünscht hätte. Zur Ehrenrettung des Möbelhauses, und deshalb habe ich Deko-Schaf Svenö angeführt, muss ich sagen, dass die dort vertriebenen Matratzen erstklassigen Brandschutz bieten. Denn mein erstes „Oh oh“-Erlebnis in der Kategorie „so kann´s mit mir nicht weitergehen“ hat etwas mit dem von einer Zigarette verursachten Brandloch in meiner relativ neuen Matratze zu tun. Mit zwei Ecstasy und mehreren Litern Alkohol intus ist es nie eine gute Idee, im Bett zu rauchen, und schon gar nicht mit brennender Zigarette einzuschlafen. Ikea saved my life. Das war im Februar. Ein paar Tage nach diesem Vorfall beschloss ich, mich in Behandlung zu begeben.


FAKTEN, FAKTEN, FAKTEN sowie DIVEN, DIVEN, DIVEN

Nach der Depression und dem Alkoholismus ist die Sozialphobie die dritthäufigste psychische Erkrankung. Lebenszeitbezogen erkranken 15,5% der Bevölkerung. Wiederum 15% dieser Betroffenen versuchen oder begehen Selbstmord.
Was mit einer „normalen“ Schüchternheit beginnen mag, steigert sich langsam in eine ausgewachsene Misere. Viele Patienten begeben sich mit einer ganz anderen Symptomatik in Behandlung, z.B. Depression und/oder Alkoholismus, psychovegetative Störungen. Das bringt mich zum nicht unverwandten Thema der axiliären Saugcurettage... Ca. ein Jahr bevor ich mich zur stationären Therapie entschloss, hatte ich den Plan meine Achsel-Schweißdrüsen entfernen zu lassen, da meine Psyche die unangenehme Angewohnheit hatte, bei leisester Stress-Indikation Achselschweiß zu produzieren. Stress konnte bedeuten, dass sich jemand außer mir im Raum aufhielt. Aber es reichte auch völlig aus, morgens allein vor meinem Computer zu sitzen und zu überlegen, was der Tag noch so für mich bereit hielt. Für wen sich jetzt das Achselschweißproblem lächerlich anhört – gehen Sie mal im Winter schwitzend durch die Stadt. Sie ernten nicht nur skeptische Blicke, sondern auch häufiger Erkältungen als die anderen. Hinzu kommt, dass das Bewusstsein „ich schwitze“ dazu führt, sich selbst, und der eigenen Anormalität ständig bewusst zu sein. Von den Waschmittekosten ganz zu schweigen. Dies nur als Beispiel für ein psychosomatisches Symptom. Selbst an Tagen, an denen ich mich stark fühlte, wies mein Körper mich daraufhin, dass ich ständig unter Druck, ständig in Alarmbereitschaft stand.

Ca 20% aller Sozialphobiker missbrauchen Alkohol. Viele Bekannte und Freunde von mir waren überrascht, als ich ihnen sagte, woran ich litt. Sie kannten mich als aufgeschlossenen, heiteren Menschen, mit dem man gut feiern kann. Nach ein paar Gläsern Wein war ich grundsätzlich auch ein gelöster Mensch und das Schwitzen, das Erröten, das zwanghafte Schlucken verschwand in der Regel. Alkohol enthemmt. Wie die meisten anderen Drogen auch. Also waren Alkohol und Drogen für mich schon einmal grundsätzlich eine gute Sache. Nur manchmal fragte ich mich, ob ich es nicht ein wenig übertrieb (siehe meine Matratze).
Doch auch die folgenden Verhaltensauffälligkeiten sind charakteristisch für den Sozialphobiker:
- Putz- und Ordnungszwang (von dem ich Gott sei Dank verschont bin)
- Kontrollzwänge aus Angst, den von außen gestellten Ansprüchen nicht zu genügen.
- Handlungsunfähigkeit basierend auf der Vorwegnahme zu befürchtender negativer Reaktionen. (Ich geh nicht auf die Party, weil mich jemand für unattraktiv oder dumm oder krank halten könnte.)
Bei all diesen Zwängen, inklusive dem Drogenmissbrauch, handelt es sich um Bewältigungsmaßnahmen der sozialen Angst. Sich der Angst auslösenden Situation gar nicht erst zu stellen, ist zunächst nicht die schlechteste Methode, sich der Angst zu entziehen. Doch nach ein paar Jahren dieser Methodik wird man sich seiner Defizite bewusst. In vielen Fällen ist der soziale Kontakt auf ein Minimum geschrumpft. Auch schon während der Vermeidungstaktik fühlt man sich schlecht. Man schämt sich für seine Unfähigkeit.
Der Drogenmissbrauch ist ein anderes Mittel, die Wand einzureißen, die der Geist den Körper veranlasst zwischen der Welt und mir zu errichten. Ich hatte und habe immer ein soziales Netz gehabt. Ich bin (auch wenn es mir oft schwer fiel) auf Theaterpremieren gegangen, habe Freunde in Cafés getroffen. Allerdings fast immer half ein Glas Sekt auf Eis. Ohne dies schaltete sich die gewohnte Selbstbeobachtung ein. Man verbringt überhaupt irrsinnig viel Zeit damit, sich mit sich selbst zu beschäftigen. Wenn ich mich einmal vergessen sollte, weist mein Körper durch Schweißbildung immer wieder verlässlich darauf hin, wie vorhanden ich eigentlich bin. Er zwingt mich zur Selbstbeobachtung und ständigen Selbstkritik. Nicht so schön für den Selbstwert. Man spürt sich. Aber nie in dem Gefühl, mit sich selbst im Einklang zu sein.
Ich kann mich an symptomfreie Zeiten erinnern, aber leider merkt sich die Psyche ihre somatischen Tricks und ich zweifle noch stark daran, dass ich sie ihr jemals dauerhaft werde austreiben können. Trotzdem will ich meine soziale Kompetenz wiederhaben. Und wenn das sechs Wochen stationäre Behandlung bedeutet und möglicherweise noch einige Jahre ambulanter Therapie, dann ist das mein Weg.

Eine Zeit lang dachte ich, dass mein Gedächtnis mich aus Altersgründen langsam im Stich lässt. Erst ein Artikel über Sozialphobie erklärte mir, was wirklich mit mir los war. Wenn ich auf einer Premiere, einer Party oder bei einem Dreh war und es ans Vorstellen der Beteiligten ging, war ich eine Minute nach der Vorstellung nicht mehr in der Lage, den Namen meines Gegenübers zu nennen. Das hatte nichts mit meinem Erinnerungsvermögen zu tun, sondern mit meiner Überforderung, gleichzeitig dem Gegenüber (dem Gegner), die Hand zu schütteln, ihn anzulächeln, ihn in mein Gesicht schauen zu lassen, meine Körperabwehr zu mobilisieren und so zu tun, als sei ich ein freundlicher, aufgeschlossener Typ. Metakognitionen nennt man das. Oder auch „angstbedingte Aufmerksamkeitsstörung“.
Ein weiteres Charakteristikum der Krankheit ist, dass man um Gottes Willen nicht unangenehm auffallen möchte. Dies hat einen Hang zum Perfektionismus zur Folge, der einen noch mehr an sich und seinen Fähigkeiten zweifeln lässt. Man will gut sein, um nicht schlecht aufzufallen. Man will um Gottes Willen gefallen. Man macht es den anderen Recht, um selbst als netter Zeitgenosse da zu stehen. Sozialphobiker würden tolle Butler abgeben, wenn sie beim Einschütten von Getränken nicht bloß so schrecklich zittern müssten. So groß wie die Bemühungen um Perfektion sein mögen kann allerdings kein Lob ausfallen. Vielleicht habe ich deshalb so lange für Promis gearbeitet: weil ein Lob aus prominentem Mund mehr wiegt, als aus dem einer Supermarktkassiererin. Eine völlig bescheuerte und unbuddhistische Annahme. Große Egos brauchten große Pflege und in der Branche hieß es „V. kann gut mit schwierigen Leuten“. Georgette, die Diva, die Nick, die Zicke und Dolly – die Dolly. Die anspruchsvolle Ingrid Caven, die abgeklärte Helen Vita. Ich war Diven-erprobt und wahrscheinlich wirklich gut im Umgang mit ihnen, weil ich mich selbst hinter ihnen verstecken konnte. Große Bekanntheit, großer Schutz, große Ehre. Ich habe es ihnen recht gemacht wo ich konnte, um zu gefallen und bloß nicht unangenehm aufzufallen. Und natürlich waren diese großen Egos auch ein Sinnbild für mich selbst, denn waren ebenfalls anders als die anderen. Und anders als andere hatten sie daraus eine Kunst gemacht. Jetzt bin ich sie los und fühle mich befreit. Der Schattenexistenzler traut sich ans Licht und bringt sich erst mal selbst nach vorne.

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Sozialphobie ist die dritthäufigste psychische Störung nach Depression und Alkoholismus. Unser Protagonist leidet seit vielen Jahren an dieser Erkrankung. Nachdem ihn die Phobie beruflich und in viererlei Hinsicht auch privat ins Aus katapultiert hat, beschließt er, sich in Behandlung zu begeben. Und weil er es sich nicht leicht machen will und an radikale Methoden glaubt, begibt er sich für eine sechswöchige REHA-Maßnahme in eine Fachklinik für psychosomatische Erkrankungen. An eines hat er jedoch nicht gedacht: dass die Kliniksituation an sich, die ständige Konfrontation mit Patienten und Pflegepersonal, zunächst einmal Futter für seine Ängste sein wird. Anstatt sich in der Klinik aufgehoben zu fühlen, schlägt er dort zunächst ziemlich hart auf.

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