Dienstag, 15. November 2005

TAG 20

Heute morgen bei Frau Dr. K. den Vortrag frühzeitig verlassen. Nicht, weil es mir nicht gefallen hätte. Frau Dr. K. ist die Art Ärztin, die ich mir gerne als poststationäre Therapeutin wünschen würde. Sie ist souverän, sehr ruhig, wirkt in sich sehr gefestigt und auf eine Harry Potter-Art gerecht und weise. Sie würde auch in Hogwarts als stellvertretende Schulleiterin eine gute Figur machen, nicht zuletzt, wegen ihrer langen, wallenden roten Haare, die sie meist über ihrer rechten Schulter trägt, so dass sie einen schönen Hintergrund für ihr Profil und Halbprofil bilden. Frau Dr. K. trägt schwarze Hosenanzüge und hatte als heutiges Vortragsthema „Verlust und Trauer“. Gerne hätte ich ihr weiter zugehört, aber die vom Publikum eingebrachten Geschichten und Erlebensberichte zum Thema interessierten mich nicht so besonders.
Stattdessen, und um mein Verschwinden vor mir selbst zu entschuldigen, habe ich mir die Notizen hervorgeholt, die ich in den vorhergehenden Vorträgen (bislang 4, 2 mal die Woche am Dienstag und Donnerstag) gemacht habe.
In der Eingangsveranstaltung zum Themenkomplex Depression, die unsere leitender Psychologe Dr P., abgehalten hat (das ist der „Sie sind dumm!“ „Warum?“ „Weil sie erst jetzt zu uns gekommen sind.“) ging es um „Die Macht der Gedanken“. Er eröffnete mit einem Zitat von Epiktet (55-135 n-Chr.): „ Nicht die Dinge selbst beunruhigen die Menschen, sondern die Vorstellung von den Dingen.“ Das klang mir verwandt. Joyce Carol Oates hat es einmal ähnlich ausgedrückt: „States of mind are real enough.“ Dr. P. veranschaulichte die Behauptung mit einer kleinen Aufgabe: Stellen sie sich eine Zitrone vor. Gelb, saftig. Sie rollen sie auf dem Tisch, um das Fruchtfleisch und den Zitronensaft zu lösen. Dann nehmen sie ein Obstmesser, schneiden die Zitrone in der Mitte durch und riechen daran.
Klar, dass wir alle Speichel absonderten wie Pavlovsche Hunde beim klingeln. Das ist (ja, hie kommt das Wort her) die WIRKMACHT von Gedanken. Bei Depris und Angstpatienten sind die Gedankenfilter falsch besetzt. Aufgrund schlechter Erfahrung oder einfach falscher Einschätzung bewerten wir anders als andere. Wenn jemand lacht, lacht er uns aus. Wenn jemand schreit, schreit er uns an. Wenn jemand weint, dann weil wir ihn traurig gemacht haben. Wir sind an allem Schuld, uns geht es nur beschissen, weil wir auf eine lange Reihe beschissener Vorfälle zurückblicken können und unsere Erwartungshaltung sich am Erlebten orientiert. Doch genau so gut wie wir mit Sicherheit das Schlimmste annehmen, könnte auch jemand, der im Lotto gewonnen hat behaupten „Ich habe einmal im Lotto gewonnen, also werde ich wieder im Lotto gewinnen.“ Beide Haltungen sind unrealistisch, wobei die Chance, sich einmal rechtmäßig beschissen zu fühlen doch etwas höher ist.
Was hilft? Die Bewusstmachung unserer dysfunktionalen Kognition, unserer Fehlannahme. Wenn wir uns immer wieder unserer Bewertung vergewissern, erkennen, dass sie ein pessimistisches Vorurteil ist. Wenn wir immer wieder positive Bewertungen abverlangen, erhöhen wir die Chance auf eine emotionale Einsicht und bestenfalls eine Automatisierung neuer, positiver (oder auch nur neutraler) Gedanken. Gemäß dem chinesischen Sprichwort „Man kann kein glückliches Leben planen, wohl aber glückliche Momente“, womit ich zum ersten Mal in meinem Leben ein chinesisches Sprichwort zitiert hätte. (Glück, in chinesisch „Fu“, bedeutet übrigens auch Fledermaus. Für alle die Esels- oder Fledermausbrücken brauchen.)

Der zweite Depri-Vortrag wurde von Dr. K. durchgeführt und war ebenfalls sehr spannend. Sie erklärte uns den biochemischen Hintergrund einer Depression und die Unterschiede bei den verschiedenen Depressionsarten.
Die durchschnittliche depressive Episode dauert 7-9 Monate. Bei medikamentöser Behandlung ist es möglich, die Dauer auf ca. 6 Wochen zu reduzieren.
„Es macht keinen Sinn, sieben Monate lang eine Depression auszuhalten, wenn man die Möglichkeit hat, durch eine geeignete Medikation die Frist beträchtlich zu senken“ fand Dr K. und ich konnte ihr nur zustimmen.
Jeder dritte erlebt in seiner Lebenszeit eine leichte depressive Episode von oben genannter Länge. Mittelgradige und schwere, mitunter rezitive Depressionen mit wahnhaften Gedanken sind seltener.
Weitere Erscheinungsformen:
- Die durch hormonelle Umstellung bedingten Depressionen in Pubertät und Klimakterium, die Post-Partum-Depression und die oft zitierte PMS.
- Die Bipolare affektive Störung (früher als manische Depression bezeichnet), bei der der Patient Momente höchster Euphorie erlebt, die von Abstürzen ins Bodenlose gefolgt werden.
- Der „Rapid Cycle“ – eine bipolare Affektstörung, bei der die Stimmung stündlich umschlagen kann.
- Die Zyklothymie, die jahreszeitabhängig in Herbst und Winter auftritt und in den nördlicheren Ländern stärker ausgeprägt ist. Dr. Kowalski berichtete, dass die Schweizer Regierung den Bewohnern der Almen und Berghütten aufgrund des schlechten Lichteinfalls in den Wintermonaten gratis starke Hoch-Lux-Lampen zur Verfügung stellte, damit die Winterdepression nicht zu viele Opfer fordert.
- Die Dysthymie, die zwischen 10 und 15 Jahren anhalten kann und sich durch chronische Freud- und Gefühlslosigkeit auszeichnet.
Zu den noch nicht von der WHO akzeptierten Depressionen zählen der Burn-Out und das „Sissy-Syndrom“. Letzteres basiert auf der Lebensgeschichte der österreichischen Prinzessin, die ihre innere Leer mit massivem körperlichen und sportlichen Einsatz zu kompensieren versuchte.

Die unterschiedlichen Depressionen haben auch unterschiedliche biochemische Ursprünge. Bei der bipolaren affektiven Störung beispielsweise, basiert die euphorische Phase auf einer zu durchlässigen Zellwand der Nervenzelle, die für die Serotoninaufnahme verantwortlich ist. (Serotonin ist der Neurotransmitter, der für das Gefühl von Sympathie, Freude und Antrieb verantwortlich ist.) Es kommt zu einem Überfluss an Serotonin. Doch irgendwann hat es sich sprichwörtlich ausgepowert und die Depression setzt ein. Diese Art von Depression wird mit Lithium, einem Salz, behandelt. Lithium legt sich auf die Zellwand und gewährleistet so eine adäquat verlangsamte Aufnahme der Botenstoffe. Der Patient erlebt allerdings bei dieser Medikation neben der ausbleibenden Depression auch die als sehr angenehm eingeschätzte Euphorie nicht mehr, was häufig zum (heimlichen) Absetzen des Medikaments (und in einigen wenigen Fällen zum Selbstmord durch Erschießen mit einem Jagdgewehr in einer Garage in Seattle) führt.
Der Abbau von Alkohol blockiert übrigens die Synapsen für die Aufnahme von Neurotransmittern. Wer saufen will, um glücklich zu sein, muss immer saufen.

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42 DAYS

Sozialphobie ist die dritthäufigste psychische Störung nach Depression und Alkoholismus. Unser Protagonist leidet seit vielen Jahren an dieser Erkrankung. Nachdem ihn die Phobie beruflich und in viererlei Hinsicht auch privat ins Aus katapultiert hat, beschließt er, sich in Behandlung zu begeben. Und weil er es sich nicht leicht machen will und an radikale Methoden glaubt, begibt er sich für eine sechswöchige REHA-Maßnahme in eine Fachklinik für psychosomatische Erkrankungen. An eines hat er jedoch nicht gedacht: dass die Kliniksituation an sich, die ständige Konfrontation mit Patienten und Pflegepersonal, zunächst einmal Futter für seine Ängste sein wird. Anstatt sich in der Klinik aufgehoben zu fühlen, schlägt er dort zunächst ziemlich hart auf.

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