TAG 19

Ich bin heute mit einer handgeschriebenen Liste zu meiner Therapeutin, mit der ich einen Notfalltermin vereinbart hatte.

- die Leute hier (Mit-Patienten) kotzen mich an.
- Es macht mich krank, mich nicht zurückziehen zu können.
- ich kann mich in einem Raum voller Menschen nicht entspannen
- meine „Fuck you“-Attitüde gegenüber der Mitpatienten führt zu konstanter Wut.
- Meine Wut kotzt mich an.
- Soll ich wirklich erst meine Psyche und dann meine Jobsituation retten?
- Soll ich mich (therapie-thematisch) zuerst um meine Vergangenheit, meine Gegenwart oder meine Zukunft kümmern?

Alles in allem: ich bin unglücklich, verwirrt und möchte alles hinschmeißen. Frau H. wies mich darauf hin, dass alle genannten Programmpunkte Symptome meiner Sozialphobie seien und hatte natürlich recht. Klar will ich nach Hause, Filme anschauen, saufen und Freunde treffen. Klar hat meine Krankheit mir genau diesen Lebensstil ermöglicht.
„Wollen Sie abbrechen?“
„Nein, keinesfalls.“

In der PLG habe ich heute das Thema vorgegeben. „Mein Selbstbild und das Bild, das andere von mir haben.“ Ich eröffnete mit meinem Geschlechtsumwandlungstraum und ging dann zu einer Beschreibung der Diskrepanz zwischen meinem Selbstbild und meiner tatsächlichen Wirkung nach außen über. Ich legte mein Problem dar, erzählte von den Ängsten und Unsicherheiten, die mich plagen. Den Schweißausbrüchen, die auch meinen Monolog begleiteten. Frau H. schleuste mich gut und unerbittlich durch. Ich wurde gebeten, meine körperlichen Symptome zu beschreiben und auf einer Skala von 1-10 zu bewerten (8). Ich stieß auf Verständnis und Applaus, was mir peinlich war. Aber besonders bei R. aus Schwerin war ich sehr gerührt und bewegt, als sie mir sagte, dass ich ein toller, warmherziger Typ sei. (Und dass die polterige, ungepflegte E. aus Frankfurt nun die Tatsache, dass ich nicht gerade ihre Nähe und Unterhaltung suche, als Zeichen meiner Sozialphobie betrachten kann, ist mir auch nicht unrecht. Eigentlich meide ich sie aus den Gründen, die ich ihr adjektivistisch attributiert habe.)
„Hat noch jemand hier im Kreis Sozialphobie?“ Keine Meldungen. Aber G. sagt, dass sie sich wiedererkannt hat und nun sehr nachdenklich gestimmt ist. (G. hat sich aber auch in der essgestörten P. und der gestalkten V. wiedererkannt.) Im abschließenden Blitzlicht, der Stimmungsmeldung, die ein- und ausgangs einer jeden PLG abgehalten wird, äußern mehrere, dass sie froh sind, einmal eine so angenehme Sitzung miterlebt zu haben.
Nach dieser ersten positiven Gruppentherapie-Erfahrung verstärkte sich der Glaube an den Plan, hier eine Lesung als Angst-Therapie zu veranstalten. Ein besseres Publikum könnte ich kaum finden.

Bevor unsere Teamaufstellung diese Woche wegen Abreisen und Neuankömmlingen wieder runderneuert wird muss ich noch eines festhalten. Wir haben momentan hier einen Herrn Schwanz, eine Frau Fick und einen Herrn Bums. (Namen vom Verfasser geändert, aber sinngemäß erhalten.)
Und von der netten Dame, die hier alle zwei Wochen montags Handtücher, Söckchen und Babylätzchen mit ihrer Laptop-Stickmaschine bestickt, habe ich mir auf ein H&M-Shirt in schöner Schreibschrift „BatesMotel“ aufsticken lassen. Ist sehr hübsch geworden. Tannengrün auf Olivgrün. Großbuchstaben €1,-, Kleinbuchstaben € 0,50. € 6,00 also alles in allem für ein Customized Shirt, um das mich in Berlin viele beneiden werden.

Auch im Sparmarkt am Marktplatz keine Cola Light Lemon.

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42 DAYS

Sozialphobie ist die dritthäufigste psychische Störung nach Depression und Alkoholismus. Unser Protagonist leidet seit vielen Jahren an dieser Erkrankung. Nachdem ihn die Phobie beruflich und in viererlei Hinsicht auch privat ins Aus katapultiert hat, beschließt er, sich in Behandlung zu begeben. Und weil er es sich nicht leicht machen will und an radikale Methoden glaubt, begibt er sich für eine sechswöchige REHA-Maßnahme in eine Fachklinik für psychosomatische Erkrankungen. An eines hat er jedoch nicht gedacht: dass die Kliniksituation an sich, die ständige Konfrontation mit Patienten und Pflegepersonal, zunächst einmal Futter für seine Ängste sein wird. Anstatt sich in der Klinik aufgehoben zu fühlen, schlägt er dort zunächst ziemlich hart auf.

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Zuletzt aktualisiert: 18. Jul, 21:25

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