TAG 29, Die Lesung

„Haben Sie sich irgendwelche Vermeidungstaktiken zurecht gelegt?“
„Wie meinen Sie – nicht dass ich wüsste. Ich meine, okay – ich bin geschminkt, aber das gehört für mich zum Auftreten dazu.“
„Dann, Herr L., würde ich Sie bitten, sich das Gesicht zu waschen.„
„Herr P. – wenn ich irgendwann eine Lesung machen werde, können Sie sicher sein, dass ich auf mein Outfit achte und mich schminke. Vor allem, wenn ich weiß, dass eine Kamera mitläuft.“
„Sie würden sagen, dass es sich um Eitelkeit handelt?“
„Ja. Ich bin eitel. Sehen Sie – so sehe ich in Berlin auch aus, wenn ich weggehe. Und die Leute hier kennen mich ja auch ungeschminkt und es ist mehr, weil das ja eine besondere Veranstaltung ist – da will ich mich doch entsprechend präsentieren. Die Angst wird nicht geringer, ob ich jetzt geschminkt oder ungeschminkt bin.“
„Sonst etwas? Die Kaninchenfelldecke – das Doris Day Autogramm, das Raumparfum – wollen Sie von sich ablenken?“
„Nein – das soll eher auf mich hinweisen. Mich illustrieren.“
„Sie sind sich sicher, dass sie sich dahinter nicht verstecken?“
„Nein – aber wenn ich schon auftreten und lesen muss, dann wenigstens mit einem Minimum an Bühnenbild, gut geschminkt, und ein bisschen Gardenienspray gehört auch dazu.“
„Gut, Herr L., ich möchte Sie bitten, die Angst voll zu zu lassen. Kämpfen Sie sie nicht nieder. Bewerten Sie sie nach dem üblichen Prinzip. Auf welche Symptome sollen wir achten? Herzrasen, Schwitzen, Zittern? Atemnot? Ohnmachtsgefühle? Flauer Magen? Sonst etwas?“
Es hört sich ein bisschen an wie ein Verkäufer, der wissen will, ob nach den Kartoffeln vielleicht noch Mohrrüben oder Kohlrabi mit in den Korb sollen.
Nach der kurzen Instruktion schickt mich Dr. P. in die Arena. Ich komme mir vor wie in dieser schlimmen Absturznacht, in der ich mich im Vollrausch zwang, mich an ALLES zu erinnern. Und das klappte. Und auch hier – in der Arena, wo schon die ersten Löwen einlaufen – klappt es. Mein erster Gast um viertel vor 5 ist D. aus Stralsund. You´ll be in my mind forever when i recall this event. Wie eine Löwin verteidigt sie die Plätze in der ersten Reihe. „Hier ist reserviert für Team 2!“

Mit der Cora-Anekdote habe ich die Lesung eröffnet. Alles lief prima. Die Angst und ihre Symptome reduzierten sich graduell (nach der oben geschilderten Abstufung startete ich mit Herz: 65, Schwitzen: 70, trockener Mund: 30, Zittern: 10. Als ich die Blätter zur Seite legte, lag ich bei Herz: 20, Schwitzen: 30, trockener Mund: 5, Zittern: 5) und als nach 45 Minuten mein Vortrag vorbei war, ich meinen Schlussapplaus bekam, war ich erleichtert und fast entspannt. Dr. P. hat die Veranstaltung auf Video aufgenommen und ich werde sie mir wohl oder übel anschauen müssen. Das Publikum wurde in meine Endbefragung einbezogen – ich sollte meine Symptome schildern und selbst einstufen, wie sichtbar sie waren. Natürlich klaffte zwischen Selbst- und Fremdeinschätzung eine ziemliche Kluft. Ich hätte schwören können, irrsinnig unsicher gewirkt zu haben. Allerdings habe ich mich selbst überrascht, während des Lesens festzustellen, dass meine Hände nicht zitterten, dass mich Blickkontakt mit dem Publikum nicht aus der Ruhe brachte. Es gab zwei Situationen, in denen in eine verstärkte Erregung verspürte. Als ich von Kais selbst gebrannter Cd schrieb, von unseren Tränen an meinem Anreisetag (da hätte ich beim Vorlesen beinah mit den Tränen kämpfen müssen, beinahe!) und als ich den Text mit dem Brandloch in der Matratze begann (was doch einen sehr intimer Moment beschreibt, von dem ich nicht wissen wollte, wie er bei Dr. P. ankommt.)
Einige Textstellen waren holprig, ein paar mal war meine Betonung falsch – das habe ich auch symptomisch gespürt, aber es war nicht so schlimm wie die schleichende Angst und Besorgnis, die ich vor der Lesung empfunden hatte. Als wir mit der Symptom-Messung fertig waren, fragte mich P., was jetzt für mich der Unterschied war – warum ich mich jetzt trotz Publikum (das unserer Unterhaltung ja noch interessiert beiwohnte – ich kam mir ein bisschen nach Jahrmarktsattraktion vor) doch recht wohl zu fühlen schien. Ich musste überlegen. Das Lesen war die Aufgabe gewesen vor der ich Angst hatte, obwohl ich sie vorbereitet hatte. Auf ein lockeres angenehmes Publikumsgespräch war ich nicht vorbereitet gewesen und hatte somit keine Gelegenheit gehabt, mich davor zu fürchten. Außerdem spürte ich das Wohlwollen des Publikums, spürte, dass ihnen die Lesung wirklich gefallen hatte. Das alles tat sehr gut. Ich konnte sogar witzeln.
Es tat mir gut, einige erwartete und unerwartete Gesichter im Publikum zu sehen. Ich weiß nicht warum, aber die Soziotherapeutin Frau A. ein paar mal froh lachen zu sehen, war für mich besonders schön.

Meine Fuck-you-attitude, die ich letztlich auch P. verdanke („Was schert Sie der Scheiß, den andere denken?!“) scheint zu funktionieren. Ich glaube wirklich.

Bei all der Scheiße, die gerade in meinem Leben stattfindet war diese Lesung heute ein Highlight und ein Meilenstein für mich. Ich musste an G. denken, ihren Alkoholkonsum auf der Bühne und auch wenn es schäbig ist, mich im Vergleich hervor zu tun – ich bin stolz, das ohne Alkohol hinter mich gebracht zu haben. Ohne einen doppelten Wodka (wie bei den Nick-Lesungen – und der Wodka hat nicht einmal geholfen) oder Baldrian oder Koks, E, was auch immer. Zum Feiern ein Glas Sekt wäre schön gewesen. Aber feiern wäre vielleicht auch Quatsch gewesen. Ich muss das wirklich erst mal sacken lassen, wollte die Eindrücke auch schnell aufschreiben, solange alles noch frisch in Erinnerung ist. Und habe jetzt schon das Gefühl, das alles war eine Art Traum, der schneller vorüber ging, als erwartet. (Ich habe nur zwei Mal auf die Uhr geschaut, die praktischerweise in meiner Sichtrichtung angebracht war – einmal mitten im ersten Text und dann als ich mit dem ersten Text durch war, um zu sehen, wo ich zeitlich stehe.)

Wenn ich jetzt mein T-Shirt zum Geruchstest heranziehe muss ich sagen – yes. The smell of fear, unmistakably. Aber ich sage jetzt dazu – fuckit. Who cares – ich hatte ne stark parfümierte Jacke drüber (okay, Dr. P. – was das angeht hab ich Sie unbewusst beschissen, das war ne Vermeidungstaktik!) und keiner hat´s gerochen. Ein bisschen Restwürde als Anker muss schon möglich sein.

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42 DAYS

Sozialphobie ist die dritthäufigste psychische Störung nach Depression und Alkoholismus. Unser Protagonist leidet seit vielen Jahren an dieser Erkrankung. Nachdem ihn die Phobie beruflich und in viererlei Hinsicht auch privat ins Aus katapultiert hat, beschließt er, sich in Behandlung zu begeben. Und weil er es sich nicht leicht machen will und an radikale Methoden glaubt, begibt er sich für eine sechswöchige REHA-Maßnahme in eine Fachklinik für psychosomatische Erkrankungen. An eines hat er jedoch nicht gedacht: dass die Kliniksituation an sich, die ständige Konfrontation mit Patienten und Pflegepersonal, zunächst einmal Futter für seine Ängste sein wird. Anstatt sich in der Klinik aufgehoben zu fühlen, schlägt er dort zunächst ziemlich hart auf.

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