Montag, 5. Dezember 2005

TAG 34

beginnt mit Heulen. Weil der Tag beginnt und ich eigentlich weiter schlafen und träumen möchte. Der vorletzte Einschlafgedanke war suizidal. Ich will weg, aber meine Welt wartet auch nicht gerade fröhlich auf mich. Weiß nicht wie ich die Miete zahlen soll – damit fängt´s schon an. Und wie es weitergehen soll – keine Ahnung. Ich möchte schnellstmöglich Veränderung. Hier raus. Irgendwo anders sein, etabliert sein ohne etwas dafür tun zu müssen. Irgendwo ich sein und sein können und damit und davon leben. Ich hatte mir so viel von dieser Reha versprochen, zuviel. Wie immer. Mir gehen die Pferde aus, auf die ich satteln könnte.

Komme aus dem Heulen wollen nicht mehr raus. Was würde helfen? Wenn es Roman-Dimensionen annehmen würde und, for instance, ein echter Antagonist hier auflaufen würde. Vielleicht wäre das ein Roman-Thema. Erzrivalen, die sich in der Psychiatrie, bzw Psychosomatik treffen und angesichts des anderen, der in verwandter Scheiße steckt, das erste Mal seit langem herzhaft lachen müssen. Aber warum noch Romane anfangen, die eh keiner lesen wird?
Lichtarbeiter, Mitstreiter in vielen Dimensionen – es sollte sich doch endlich mal lohnen. Es wir kommen es wird kommen – nur Geduld... Fuckit.

Auf dem Weg zum Steg an der Feisneck, auf dem ich mit L. saß. Aus dem selben Grund, aus dem sie hier her kam. Wenn sie nicht mehr weiter wusste. Kurz vorm Steg ein behindertes Kind im Rollstuhl. Auf dem Steg, trotz Graden in der 10er Gegend heiter ins Wasser hechtend, zwei „Sommersturm“-Jünglinge. Ich sitze, rauche, höre die seit drei Monaten ersehnte „Nunsexmonkrock“ von Nina Hagen. Reflektiere mein Einzelgespräch mit Frau S., der Ersatztherapautin, weil Frau H. im Urlaub ist.
Ich äußere meinen Unmut, meinen Unwillen, länger hier zu bleiben.
„Ich sehe nicht, was noch passieren soll in den nächsten 10 Tagen. Das Tempo ist mir zu langsam. Ich kann nicht mehr, ich will nicht mehr, ich brauche mein Zuhause.“
Sie lässt sich etwas einfallen, dass ich merke, dass ich noch weit entfernt bin (9 Tage), mein Leben wieder selbst in die Hand zu nehmen. Wir sprechen meine Expositionsaufgabe „Lesung“ durch. Wieder geht es um meine Vermeidungstaktiken.
„Die bin ich mit Dr. P. doch schon durchgegangen.“
„Aber der hat Sie nicht proben sehen.“
„Ja und? Wenn ich auf eine Bühne gehe, dann sollte ich besser vorher proben.“
„Sonst etwas?“
„Bauchatmung direkt davor.“
„Und hatten Sie Angst?“
„Ja.“
„Hat man Sie Ihnen angemerkt?“
„Ich hoffe nein.“
„Sehen Sie: Sie haben Ihre Angst gekonnt überspielt – ich habe nur Gutes über die Lesung gehört von allen mit denen ich darüber gesprochen habe.“
„Ja aber das ist doch gut, oder?“
„Für die Lesung schon, aber nicht für Ihre Angstexposition. Dort müssen Sie Ihre Angst zulassen, sich ihr stellen, ohne Vermeidung, ohne Netz.“
Wir nähern uns der richtigen Aufgabe. Kommen auf das Thema des Bewerbungsgesprächs, bei dem mir allein schon in der Vorstellung vor Angst übel wird.
„Möchten Sie ein Test-Gespräch?“
„Nein.“
„Warum nicht?“
„Weil ich es nicht kann.“
„Warum glauben Sie es nicht zu können?“
„Weil ich Angst haben werde.“
„Und?“
Und da fange ich an zu weinen. „Und weil ich weiß, dass ich dort niemanden glauben machen kann, ich hätte keine.“
Auf dem Rückweg zur Klinik, eine Frau auf dem Fahrrad, mit einem Kopftuch so um den Kopf gebunden, dass sie sich auch gleich ein Schild mit der Aufschrift „Chemotherapie“ hätte umhängen können.

„Aber warum bringen Sie uns erst bei, wie wir hilfreiche Gedanken entwickeln können, wie wir uns mit Atmung beruhigen sollen, wenn wir in der Exposition dann alles wieder vergessen sollen??“

Heute den Hasen wieder gesehen. Hallo Harvey. Love, yours, Donnie D.

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42 DAYS

Sozialphobie ist die dritthäufigste psychische Störung nach Depression und Alkoholismus. Unser Protagonist leidet seit vielen Jahren an dieser Erkrankung. Nachdem ihn die Phobie beruflich und in viererlei Hinsicht auch privat ins Aus katapultiert hat, beschließt er, sich in Behandlung zu begeben. Und weil er es sich nicht leicht machen will und an radikale Methoden glaubt, begibt er sich für eine sechswöchige REHA-Maßnahme in eine Fachklinik für psychosomatische Erkrankungen. An eines hat er jedoch nicht gedacht: dass die Kliniksituation an sich, die ständige Konfrontation mit Patienten und Pflegepersonal, zunächst einmal Futter für seine Ängste sein wird. Anstatt sich in der Klinik aufgehoben zu fühlen, schlägt er dort zunächst ziemlich hart auf.

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