i am the concierge

Donnerstag, 17. November 2005

TAG 22

Wollte heute meine Lesung wieder absagen. Wurde mir nicht gestattet. Bin jetzt zickig und hab gar keine Lust mehr zu schreiben. (Wollte u.a. absagen, weil ich meinen vor ein paar Monaten geschriebenen Einstiegestext auf einmal ziemlich scheiße fand. Frau H. würde sagen, das seien meine depressiven nicht hilfreichen Gedanken. Ich sage, es ist meine objektive Sichtweise.)
3 Wochen noch. Scheiße ist das lang.

Mittwoch, 16. November 2005

TAG 21

Heute morgen die letzte Angst-Veranstaltung bei Dr. Kr. mit dem charmanten fränkischen Akzent. Thema 1: hilfreiche Gedanken. Nachdem ich mich schon sehr schwer getan hatte, meine automatisierten negativen Gedanken bei Angstschüben zu isolieren, soll ich mir heute hilfreiche Alternativgedanken suchen, die ich im Angstfall abrufen kann. Mir fiel ein „It´s not right but it´s okay“. Danke, Whitney Huston.
Zum Abschluss und passend zum Thema 2, der Angst-Exposition, bekamen wir ein „Expositionstagebuch“ mit auf den Weg, verbunden mit der Aufgabe, uns ein paar Furcht erregenden Situationen zu stellen. Auf einem anderen Fragebogen hatten wir Situationen, in denen wir mit Angst reagieren Rangstufen von 1 bis 10 zugeteilt. Wir können nun entweder graduiert kleine Aufgaben absolvieren oder uns massiert die Angstkante geben. Letzteres bedeutet: Konfrontation mit der schlimmstmöglichen Angstsituationen, am besten fünf bis zehn hintereinander weg, Augen auf und durch. Wir sollen die Angst zulassen, sie fühlen und unsere körperlichen Reaktionen ebenfalls von 1 bis 10 benoten. Zittern 9, Atemnot 6, Schweißausbruch 10 usw.
Auf meiner Angst Hitparade liegt auf Platz 1 mit 10 Punkten 15 Jahre in Folge die Aufgabe „Vortrag halten“. Und was ich gestern so sehr verdrängte, dass ich es hier nicht aufschreiben konnte: Frau H. und ich haben eine Expositionsaufgabe für mich festgelegt. Heute in einer Woche, am Mittwoch, den 3. August, hält BatesMotel in der Aula der Fachklinik W. eine Lesung zum Thema „Abjedreht: aus dem Tagebuch eines Angstpatienten“.

AAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAARRRRRRRRRRRRRRRGGGGGGGGGGGGHHHHHHHHH!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!

Dienstag, 15. November 2005

TAG 20

Heute morgen bei Frau Dr. K. den Vortrag frühzeitig verlassen. Nicht, weil es mir nicht gefallen hätte. Frau Dr. K. ist die Art Ärztin, die ich mir gerne als poststationäre Therapeutin wünschen würde. Sie ist souverän, sehr ruhig, wirkt in sich sehr gefestigt und auf eine Harry Potter-Art gerecht und weise. Sie würde auch in Hogwarts als stellvertretende Schulleiterin eine gute Figur machen, nicht zuletzt, wegen ihrer langen, wallenden roten Haare, die sie meist über ihrer rechten Schulter trägt, so dass sie einen schönen Hintergrund für ihr Profil und Halbprofil bilden. Frau Dr. K. trägt schwarze Hosenanzüge und hatte als heutiges Vortragsthema „Verlust und Trauer“. Gerne hätte ich ihr weiter zugehört, aber die vom Publikum eingebrachten Geschichten und Erlebensberichte zum Thema interessierten mich nicht so besonders.
Stattdessen, und um mein Verschwinden vor mir selbst zu entschuldigen, habe ich mir die Notizen hervorgeholt, die ich in den vorhergehenden Vorträgen (bislang 4, 2 mal die Woche am Dienstag und Donnerstag) gemacht habe.
In der Eingangsveranstaltung zum Themenkomplex Depression, die unsere leitender Psychologe Dr P., abgehalten hat (das ist der „Sie sind dumm!“ „Warum?“ „Weil sie erst jetzt zu uns gekommen sind.“) ging es um „Die Macht der Gedanken“. Er eröffnete mit einem Zitat von Epiktet (55-135 n-Chr.): „ Nicht die Dinge selbst beunruhigen die Menschen, sondern die Vorstellung von den Dingen.“ Das klang mir verwandt. Joyce Carol Oates hat es einmal ähnlich ausgedrückt: „States of mind are real enough.“ Dr. P. veranschaulichte die Behauptung mit einer kleinen Aufgabe: Stellen sie sich eine Zitrone vor. Gelb, saftig. Sie rollen sie auf dem Tisch, um das Fruchtfleisch und den Zitronensaft zu lösen. Dann nehmen sie ein Obstmesser, schneiden die Zitrone in der Mitte durch und riechen daran.
Klar, dass wir alle Speichel absonderten wie Pavlovsche Hunde beim klingeln. Das ist (ja, hie kommt das Wort her) die WIRKMACHT von Gedanken. Bei Depris und Angstpatienten sind die Gedankenfilter falsch besetzt. Aufgrund schlechter Erfahrung oder einfach falscher Einschätzung bewerten wir anders als andere. Wenn jemand lacht, lacht er uns aus. Wenn jemand schreit, schreit er uns an. Wenn jemand weint, dann weil wir ihn traurig gemacht haben. Wir sind an allem Schuld, uns geht es nur beschissen, weil wir auf eine lange Reihe beschissener Vorfälle zurückblicken können und unsere Erwartungshaltung sich am Erlebten orientiert. Doch genau so gut wie wir mit Sicherheit das Schlimmste annehmen, könnte auch jemand, der im Lotto gewonnen hat behaupten „Ich habe einmal im Lotto gewonnen, also werde ich wieder im Lotto gewinnen.“ Beide Haltungen sind unrealistisch, wobei die Chance, sich einmal rechtmäßig beschissen zu fühlen doch etwas höher ist.
Was hilft? Die Bewusstmachung unserer dysfunktionalen Kognition, unserer Fehlannahme. Wenn wir uns immer wieder unserer Bewertung vergewissern, erkennen, dass sie ein pessimistisches Vorurteil ist. Wenn wir immer wieder positive Bewertungen abverlangen, erhöhen wir die Chance auf eine emotionale Einsicht und bestenfalls eine Automatisierung neuer, positiver (oder auch nur neutraler) Gedanken. Gemäß dem chinesischen Sprichwort „Man kann kein glückliches Leben planen, wohl aber glückliche Momente“, womit ich zum ersten Mal in meinem Leben ein chinesisches Sprichwort zitiert hätte. (Glück, in chinesisch „Fu“, bedeutet übrigens auch Fledermaus. Für alle die Esels- oder Fledermausbrücken brauchen.)

Der zweite Depri-Vortrag wurde von Dr. K. durchgeführt und war ebenfalls sehr spannend. Sie erklärte uns den biochemischen Hintergrund einer Depression und die Unterschiede bei den verschiedenen Depressionsarten.
Die durchschnittliche depressive Episode dauert 7-9 Monate. Bei medikamentöser Behandlung ist es möglich, die Dauer auf ca. 6 Wochen zu reduzieren.
„Es macht keinen Sinn, sieben Monate lang eine Depression auszuhalten, wenn man die Möglichkeit hat, durch eine geeignete Medikation die Frist beträchtlich zu senken“ fand Dr K. und ich konnte ihr nur zustimmen.
Jeder dritte erlebt in seiner Lebenszeit eine leichte depressive Episode von oben genannter Länge. Mittelgradige und schwere, mitunter rezitive Depressionen mit wahnhaften Gedanken sind seltener.
Weitere Erscheinungsformen:
- Die durch hormonelle Umstellung bedingten Depressionen in Pubertät und Klimakterium, die Post-Partum-Depression und die oft zitierte PMS.
- Die Bipolare affektive Störung (früher als manische Depression bezeichnet), bei der der Patient Momente höchster Euphorie erlebt, die von Abstürzen ins Bodenlose gefolgt werden.
- Der „Rapid Cycle“ – eine bipolare Affektstörung, bei der die Stimmung stündlich umschlagen kann.
- Die Zyklothymie, die jahreszeitabhängig in Herbst und Winter auftritt und in den nördlicheren Ländern stärker ausgeprägt ist. Dr. Kowalski berichtete, dass die Schweizer Regierung den Bewohnern der Almen und Berghütten aufgrund des schlechten Lichteinfalls in den Wintermonaten gratis starke Hoch-Lux-Lampen zur Verfügung stellte, damit die Winterdepression nicht zu viele Opfer fordert.
- Die Dysthymie, die zwischen 10 und 15 Jahren anhalten kann und sich durch chronische Freud- und Gefühlslosigkeit auszeichnet.
Zu den noch nicht von der WHO akzeptierten Depressionen zählen der Burn-Out und das „Sissy-Syndrom“. Letzteres basiert auf der Lebensgeschichte der österreichischen Prinzessin, die ihre innere Leer mit massivem körperlichen und sportlichen Einsatz zu kompensieren versuchte.

Die unterschiedlichen Depressionen haben auch unterschiedliche biochemische Ursprünge. Bei der bipolaren affektiven Störung beispielsweise, basiert die euphorische Phase auf einer zu durchlässigen Zellwand der Nervenzelle, die für die Serotoninaufnahme verantwortlich ist. (Serotonin ist der Neurotransmitter, der für das Gefühl von Sympathie, Freude und Antrieb verantwortlich ist.) Es kommt zu einem Überfluss an Serotonin. Doch irgendwann hat es sich sprichwörtlich ausgepowert und die Depression setzt ein. Diese Art von Depression wird mit Lithium, einem Salz, behandelt. Lithium legt sich auf die Zellwand und gewährleistet so eine adäquat verlangsamte Aufnahme der Botenstoffe. Der Patient erlebt allerdings bei dieser Medikation neben der ausbleibenden Depression auch die als sehr angenehm eingeschätzte Euphorie nicht mehr, was häufig zum (heimlichen) Absetzen des Medikaments (und in einigen wenigen Fällen zum Selbstmord durch Erschießen mit einem Jagdgewehr in einer Garage in Seattle) führt.
Der Abbau von Alkohol blockiert übrigens die Synapsen für die Aufnahme von Neurotransmittern. Wer saufen will, um glücklich zu sein, muss immer saufen.

Montag, 14. November 2005

TAG 19

Ich bin heute mit einer handgeschriebenen Liste zu meiner Therapeutin, mit der ich einen Notfalltermin vereinbart hatte.

- die Leute hier (Mit-Patienten) kotzen mich an.
- Es macht mich krank, mich nicht zurückziehen zu können.
- ich kann mich in einem Raum voller Menschen nicht entspannen
- meine „Fuck you“-Attitüde gegenüber der Mitpatienten führt zu konstanter Wut.
- Meine Wut kotzt mich an.
- Soll ich wirklich erst meine Psyche und dann meine Jobsituation retten?
- Soll ich mich (therapie-thematisch) zuerst um meine Vergangenheit, meine Gegenwart oder meine Zukunft kümmern?

Alles in allem: ich bin unglücklich, verwirrt und möchte alles hinschmeißen. Frau H. wies mich darauf hin, dass alle genannten Programmpunkte Symptome meiner Sozialphobie seien und hatte natürlich recht. Klar will ich nach Hause, Filme anschauen, saufen und Freunde treffen. Klar hat meine Krankheit mir genau diesen Lebensstil ermöglicht.
„Wollen Sie abbrechen?“
„Nein, keinesfalls.“

In der PLG habe ich heute das Thema vorgegeben. „Mein Selbstbild und das Bild, das andere von mir haben.“ Ich eröffnete mit meinem Geschlechtsumwandlungstraum und ging dann zu einer Beschreibung der Diskrepanz zwischen meinem Selbstbild und meiner tatsächlichen Wirkung nach außen über. Ich legte mein Problem dar, erzählte von den Ängsten und Unsicherheiten, die mich plagen. Den Schweißausbrüchen, die auch meinen Monolog begleiteten. Frau H. schleuste mich gut und unerbittlich durch. Ich wurde gebeten, meine körperlichen Symptome zu beschreiben und auf einer Skala von 1-10 zu bewerten (8). Ich stieß auf Verständnis und Applaus, was mir peinlich war. Aber besonders bei R. aus Schwerin war ich sehr gerührt und bewegt, als sie mir sagte, dass ich ein toller, warmherziger Typ sei. (Und dass die polterige, ungepflegte E. aus Frankfurt nun die Tatsache, dass ich nicht gerade ihre Nähe und Unterhaltung suche, als Zeichen meiner Sozialphobie betrachten kann, ist mir auch nicht unrecht. Eigentlich meide ich sie aus den Gründen, die ich ihr adjektivistisch attributiert habe.)
„Hat noch jemand hier im Kreis Sozialphobie?“ Keine Meldungen. Aber G. sagt, dass sie sich wiedererkannt hat und nun sehr nachdenklich gestimmt ist. (G. hat sich aber auch in der essgestörten P. und der gestalkten V. wiedererkannt.) Im abschließenden Blitzlicht, der Stimmungsmeldung, die ein- und ausgangs einer jeden PLG abgehalten wird, äußern mehrere, dass sie froh sind, einmal eine so angenehme Sitzung miterlebt zu haben.
Nach dieser ersten positiven Gruppentherapie-Erfahrung verstärkte sich der Glaube an den Plan, hier eine Lesung als Angst-Therapie zu veranstalten. Ein besseres Publikum könnte ich kaum finden.

Bevor unsere Teamaufstellung diese Woche wegen Abreisen und Neuankömmlingen wieder runderneuert wird muss ich noch eines festhalten. Wir haben momentan hier einen Herrn Schwanz, eine Frau Fick und einen Herrn Bums. (Namen vom Verfasser geändert, aber sinngemäß erhalten.)
Und von der netten Dame, die hier alle zwei Wochen montags Handtücher, Söckchen und Babylätzchen mit ihrer Laptop-Stickmaschine bestickt, habe ich mir auf ein H&M-Shirt in schöner Schreibschrift „BatesMotel“ aufsticken lassen. Ist sehr hübsch geworden. Tannengrün auf Olivgrün. Großbuchstaben €1,-, Kleinbuchstaben € 0,50. € 6,00 also alles in allem für ein Customized Shirt, um das mich in Berlin viele beneiden werden.

Auch im Sparmarkt am Marktplatz keine Cola Light Lemon.

Freitag, 11. November 2005

TAG 18, Sonntag

Heute morgen bin ich komisch aufgewacht. Letzte Nacht träumte ich, mein Geschlecht sei operativ verändert worden. Ich war eine Frau, noch dazu eine Frau mit kleinen Titten. Als ich mich über die Titten beschwerte, erklärte mir Romy Haag, die seien viel natürlicher als die dicken Dinger, die andere sich machen lassen, aber ich wusste, dass sie innerlich triumphierte, dass man bei mir an Silikon gespart hatte. Ich betastete meine knallharten kleinen Titten und dachte „von wegen Natürlichkeit – wer die in die Finger bekommt, weiß doch sofort bescheid...“
Ich war nicht nur wegen der Größe meiner Brüste in Aufruhr, es gab etwas, das mich viel mehr entsetzte: ich hatte gar keine Geschlechtsumwandlung gewollt. Da musste jemand mich missverstanden haben. Und noch im Traum viel mir ein Gespräch ein, das ich mit D. gehabt hatte, in dem es um Transsexuelle ging. Wir waren beide der Ansicht gewesen, dass viele Transsexuelle nicht notwendigerweise ihr Geschlecht ändern wollen, sondern ihren eigenen Körper vernichten. Und besser als von-Mann-zu-Frau oder umgekehrt, kann man sich gar nicht ausradieren.
Ich muss das jetzt nicht deuten, oder?

Donnerstag, 10. November 2005

TAG 17, SAMSTAG

Gestern Abend habe ich meine Mutter vom Bahnhof abgeholt und heute den ganzen Tag mit ihr verbracht. Auch wenn es schön ist, sie zu sehen – heute komme ich mir den ganzen Tag als Anstaltsinsasse vor, als Psycho. Ich schau durch ihre Augen auf mich drauf und versuche gleichzeitig, den Eindruck zu erwecken, dass mir das hier gut tut während ich mir innerlich ihre Fragen stelle. „Hilft es ihm?“, „Was wird danach?“, „Wie kommt er wieder auf die Beine?“ Und ich weiß es nicht. Ich lebe in dieser Blase namens Fachklinik, von der ich meine Zukunft abhängig gemacht habe und habe keinen Schimmer, was als nächstes, geschweige denn übernächstes passieren soll.
Je repars á zero?
An dieser Stelle, Überblendung zu Großaufnahme einer stark geschminkten im Stile einer Eislauftrainerin streng gescheitelten Nina Hagen, die Augen (getuscht mit schwerstem grobkörnigen Glitzerstaub) geschlossen, Sphärenklänge wie Frank B.s Klingelton, den ich mal beschrieben habe „wie die Erektion eines Engels“, Hagens signalroter Mund öffnet sich:

Ich weiß es wirrrd einmal ein Wunder gescheh´n
Und dann werden tausend Märchen wahr...

Ich habe keine Zukunftspläne außer, dass ab 18.8.2005 bitte einfach alles wie geschmiert läuft. Dass ich mit meinen und für meine Projekte und Produkten endlich wertgeschätzt, sprich fürstlich entlohnt werde. Sonst habe ich keine Idee. Und, obwohl ich die Arbeit der Therapeuten und der anderen Mitarbeiter hier hoch schätze – ich glaube auch nicht, dass mir jemand eine Idee liefern wird. Wenn Du eine helfende Hand brauchst, schau an Deinem Arm entlang.
I´m not there yet.

Festzuhalten: Aufgrund des Ankommens der Außenwelt (Mum) in der Binnenwelt (Fachklinik) wackelt die Innenwelt. Und das fühlt sich nicht gut an.

Mittwoch, 9. November 2005

TAG 16

Ich war gestern noch mit K. essen – K. ist die Frau, die an meinem ersten Samstag wegen Fehlgeburt ins Krankenhaus musste. Das Gespräch war angenehm und wir sind uns in vielen Dingen einig – zum Beispiel, dass wir uns auf das bodenlose Niveau der Nerv-Prolls nicht hinunterziehen lassen wollen. Gut zu wissen, dass C. und sie auch von der Aldi-Atmosphäre abgeturnt sind. Wir hatten mit gestressten Managern, verzweifelten Pop-Sternchen und vielleicht Jessica Stockmann-Stich oder vielleicht Chiara Ohoven gerechnet, nicht mit Hartz 4 und Überbrückungsgeld-Kur-Profis in KIK-Textil-Diskonter--Flip Flops. Nachdem gestern mein Hauptthema Selbstbild und wie ich wirklich auf andere wirke war, kam diesbezüglich eine sehr interessante Neuigkeit von K.
„Menschen wie Du – schöne Menschen, sensible Menschen – die werden doch in dieser Gesellschaft plattgemacht.“
Das sollte ich Frau H. in der nächsten Sitzung erzählen: Schön ist nicht das erste Attribut, das ich mir zuordnen würde.

Harry Potter 6 zu Ende gelesen. Wenn es in Teil 7 wieder keinen Schwulen gibt, boykottiere ich die Rowling.
Konnte nicht einschlafen. Jürgen hat einen Benachrichtigungszettel für ein Einschreiben in meinem Briefkasten gefunden. Jetzt rätsele ich, wer mir ein Einschreiben schicken mag... Finanzamt? Irgend eine Mahnung? Aber von wem?? Eine Abmahnung für meinen Blog? Gestern war ich den ganzen Tag weitestgehend symptom – sprich schweißfrei, das sieht seit dem Telefonat mit Jürgen anders aus. Aber so ist sie, die wahre Welt da draußen, sie stresst mich. Auch der Gedanke an den Besuch meiner Mutter, die ich gegen Abend am Bahnhof abhole. Einerseits freue ich mich, sie zu sehen, andererseits ist mir nicht nach Entertainmentprogramm, zumal das Wetter hier immer noch außer Rand und Band ist. Regen, Sonne, Platzregen, Sonne. Hat der Wettergott eine bipolare Persönlichkeitsstörung?

Dass ich gestern symptomfrei war – hat das was mit meinem Muskelentspannungstraining zu tun? Ich glaube daran, dass ich meinem Geist über den Körper klar machen kann, dass es neben der Anspannung auch eine Entspannung geben muss. Und dass er von der permanenten Anspannung einfach mal absehen sollte.

Dienstag, 8. November 2005

TAG 15

2 Wochen sind rum. Wo sind sie hin? Mittlerweile herrscht allüberall Lagerkoller und Verkindergartnung. Ich halte mich raus, da ich das individuell ja bereits erledigt habe. Alle anderen leiden, aber das wird vom ultraüblen Wetter begünstigt. Seit ein paar Tagen (2? 3?) regnet es unaufhörlich. Kein Schwimmen, kein Sonnen ist möglich, und diejenigen, die keine Bücher mitgebracht haben, machen sich ihre eigene Unterhaltung, indem sie sich an die Gurgel gehen. So auch heute in der PLG geschehen. Dabei hatte ich auf Anraten meiner Therapeutin ein Thema vorbereitet, das sicher auch die anderen interessiert hätte – „Mein Selbstbild und das Bild, das die anderen von mir haben.“ Ich bin ja noch ein paar Wochen hier.

Montag, 7. November 2005

TAG 14

Angst in der Aula. Ich bekomme bestätigt, was ich kürzlich im Einzelgespräch erfuhr: ich bin nicht nur sozialphobisch, sondern auch agoraphobisch. Agoraphobie, die Angst vorm Großen Platz, nicht die Angst, zu platzen. Agoraphobisch ist man, wenn man Theater, Kinos, Geschäfte und öffentliche Verkehrsmittel nicht aushalten kann. Allerdings nicht wegen der Örtlichkeit sondern wegen der dort vorhandenen Menschen. Ich dachte immer, dies sei Teil meiner Sozialphobie, aber für die sind Prüfungs- und sonstige Gesprächssituationen (u.a. auch Therapiegespräch) charakteristisch. Es ist nicht so, dass sich eine Angst ausbildet und ausweitet wie nasse Tusche auf Papier, aber es kommt in 25% aller Fälle vor, dass man von mehreren Ängsten betroffen ist.
In der Ergotherapie male ich eine Art Mandala in Pink- und Orangetönen. Damit wir nicht wie beim letzten Mal Eso-Musik hören müssen, habe ich die Robbie Williams Greatest Hits CD mitgebracht. Unsere Therapeutin liebt Robbie und war sogar beim Konzert in der Wuhlheide. Ich hoffe (und zweifle daran), dass Robbie auch bei R. und I. (beide über 60) gut ankommen wird. Nach einer halben Stunde des selbstverlorenen Malens in besinnlicher Stille sagt I. mit einem wohligen Seufzer „Ohhhh. „Feel“ ist doch wirklich das allerschönste Lied von Robbie Williams!“

Im Einzelgespräch werde ich aufgefordert, die Gedanken zu formulieren, die ich in einer Angstsituation (z.B an der Supermarktkasse) habe. Dies erweist sich als äußerst schwierig, da ich mich kaum an Gedanken erinnern kann. Es ist wie eine Ausgrabung – ich formuliere eher, welche Gedanken meinen Gefühlen zugrunde liegen, als dass ich die Gedanken treffsicher beschreiben kann. So sieht auch meine Hausaufgabe für´s nächste Mal aus: die Gedanken zu notieren, die mir in Angstsituationen durch den Kopf gehen.
Ich habe auch meine Streit-Situation mit M. thematisert. Erschreckend, wie charakteristisch mein (Nicht-)Verhalten ihr gegenüber ist. Mir wird klar, dass ich schon immer Freundschaften beendet habe, wenn ich den Eindruck hatte, dass meine Wertmaßstäbe verletzt wurden. Ohne diese Wertmaßstäbe jedoch vorher klargemacht zu haben. Ich bin nicht nur hyper-alarmbereit, sondern auch hypersensibel. Und hyperunsensibel, was die (in meinen Augen) Vorsätze der anderen angeht. Ich unterstelle, klassifiziere, verstoße.
Aussprache mit M. Sie hatte keine Ahnung, dass sie mich so verletzt hatte.
Kann ich bitte einen Therapeuten haben, der mir im wahren Leben auch diese Klarheit verschafft?

Meine Hausaufgabe:
Was ich während einer Angst/Beklemmungssituation empfinde:

Gemeinsames Essen im Speisesaal. Ich bin befangen, habe einen Kloß im Hals und kann nur schlecht schlucken. Ich denke „die halten mich bestimmt für einen Bauerntrampel, der nicht gelernt hat, geräuscharm zu essen.“

Gespräch mit dem Chef. Es geht um Fehlzahlen bei der Inventur. Ich denke: „Bestimmt denkt er, dass ich die CDs selbst verkauft und in die eigene Tasche gewirtschaftet habe.“

Vor Gericht. Obwohl ich den Kläger vertrete denke ich, dass man mich wegen meiner Nervosität für den eigentlich Schuldigen hält.

Und dann fällt mir diese schlimme Panikattacke ein, die ich nach der Trennung von M. hatte. Ich war im Café Morena verabredet und sehe davor jemanden sitzen, den ich für M. halte. Das hat mir den Atem geraubt. So schnell denken konnte ich gar nicht, wie der Schock durch mich knallte wie ein Blitz. Was mag ich da gedacht haben? Etwas banales wie „ich KANN ihn nicht sehen“, das DARF nicht sein.“ In den ersten Wochen der Trennung konnte ich nicht einschlafen, weil ich Atemnot hatte, sobald ich allein war. Die Luft kam nicht in den Lungen an, glaubte ich. Immer lief der Fernseher, selbst nachts, falls ich aufwachte.
Heute weiß ich, dass das zugleich der Beginn einer 7-9monatigen depressiven Episode war.

Freitag, 4. November 2005

TAG 13

Nachdem ich meiner Co-Therapeutin glaubhaft und wahrheitsgemäß versichern konnte, dass ich heute ein Problem damit habe, in einem Raum mit 20 Menschen meine Muskeln progressiv nach Jacobsen zu relaxieren, habe ich frei gemacht und meinen ersten Besuch empfangen. Meine Freundin Ch. hat auf dem Weg von München über Berlin an die Ostsee in W. Zwischenstopp gemacht und wir haben einen Kaffee getrunken. Ich erklärte ihr, dass die Therapie für mich gut läuft, auch wenn es mir außerhalb der Veranstaltungen manchmal so vorkommt, als sein ich in einer vollbesetzten Aldi-Filiale (Nord) eingesperrt.
Der Streit mit F. ist bereinigt, auf M. bin ich nach wie vor sauer.

Morgen lasse ich mir bei der Anstaltsfriseuse die Wimpern färben. Ich bin abenteuerlustig. Aber nicht abenteuerlustig genug für blonde Strähnen.

Dumme Sprüche, die ich 15 Jahre oder länger nicht gehört habe, bis ich nach W. kam:
(Auf hochdeutsch wiedergegeben.)
„Du, ich hab Nadel und Faden dabei – soll ich das Loch in Deiner Jeans stopfen?“
„Du, Deine Schuhe quietschen so. Die hast Du wohl noch nicht bezahlt, watt?“

Weil rausgekommen ist, dass „Nur nicht aus Liebe weinen?“ von mir verfasst worden ist, interessiert sich nun auch F., der zweite Homo hier, für mich. Bislang waren wir uns aus dem Weg gegangen. Bei circa 180 Leuten halten sich hier momentan (meines bisherigen Wissens) 3 schwule Patienten auf. Unterdurchschnittlich, geht man doch von einem schwulen Bevölkerungsanteil von 10% aus.
T., die ich erst für eine Lesbe hielt (kurze rote Haare, Trainingshose, sog. „kesse“ Brille, Badmintonschläger und verschließbare Kaffeetasse), entpuppte sich als „Mutti“. T. bringt Spaß in die Bude, hat oft das letzte Wort, und weil das meistens gut ist, gönne ich es ihr. Wir haben Lieblingswörter, die wir uns bemühen, in jeder Unterhaltung unterzubringen. Manchmal müssten wir uns bemühen, nicht zu sehr unter die Gürtellinie zu gehen, tun es dann aber doch nicht. Unser derzeitiger Wort-Favorit ist nach wie vor „wirkmächtig“. Der alkoholfreie Sekt, den wir gerade zu F.s Abschied getrunken haben, ist geschmacksfrei, etwas seifig im Abgang und auch sonst nicht sehr wirkmächtig.
Heute ein Neuzugang und morgen noch mal sechs Frauen für Team 2. Hoffentlich noch ein paar Leute, die die Fähigkeit besitzen, ihr Leid mit lautem Lachen verlauten zu lassen. Heute z.B. haben wir uns über das „restless leg-Syndrom“ nicht mehr eingekriegt. Manche Angstpatienten können nicht einschlafen, weil ihre Beine zucken. Wenn man Gesichter auf die Knie malt und eine Kamera draufhält könnte man es den Dritten als Kindersendung verkaufen. Oder als Musikvideo: Guilty feet have got no rhythm. Ganz zu schweigen davon, was RTL2 oder, noch besser, Arte mit einem so potenten Format berwerkstelligen könnte. Nicht lachen – ich erinnere mich an einen hochdotierten Kurzfilm namens „23 Barbiepuppen kippen um“ in dem nichts anderes geschieht als der Titel verspricht.

Habe ich schon erwähnt, das es im örtlichen KIK-Textildiskonter eine „Parfum“-Abteilung gibt, in der nicht nur der Herrenduft „Gattaca“, sondern auch das Duftwasser „Pretty Stalking“ angeboten wird? Wirklich wahr.

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42 DAYS

Sozialphobie ist die dritthäufigste psychische Störung nach Depression und Alkoholismus. Unser Protagonist leidet seit vielen Jahren an dieser Erkrankung. Nachdem ihn die Phobie beruflich und in viererlei Hinsicht auch privat ins Aus katapultiert hat, beschließt er, sich in Behandlung zu begeben. Und weil er es sich nicht leicht machen will und an radikale Methoden glaubt, begibt er sich für eine sechswöchige REHA-Maßnahme in eine Fachklinik für psychosomatische Erkrankungen. An eines hat er jedoch nicht gedacht: dass die Kliniksituation an sich, die ständige Konfrontation mit Patienten und Pflegepersonal, zunächst einmal Futter für seine Ängste sein wird. Anstatt sich in der Klinik aufgehoben zu fühlen, schlägt er dort zunächst ziemlich hart auf.

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